4 min 27. Juni 2025 Was bleibt wenn wir verlieren?

Wenn das Leben sich verändert – Der Verlust von Fähigkeiten und Autonomie

Teil 1

von Matthias Joos

Es begann schleichend.
Ich mied die Dämmerung beim Autofahren,
brauchte länger für den Einkauf,
mein Atem ging schneller beim Treppensteigen.

Manche Namen,
die mir zuvor noch ganz vertraut waren,
entschwanden plötzlich.

Der Garten, früher ein Ort der Kraft,
wurde zur Mühe.
Und irgendwann musste ich mir eingestehen:
So wie früher geht es nicht mehr.

Eine Kette kleiner Abschiede

Der Verlust meiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten
kam nicht als einzelnes Ereignis,
sondern als Kette kleiner Abschiede –
von Beweglichkeit, Kraft, Erinnerung.
Von Selbstverständlichkeit.

Doch es war nicht nur das, was ich nicht mehr konnte.
Es war das schwindende Gefühl,
mein Leben selbst zu steuern.

Ich hatte alles getan:
Vorsorgeuntersuchungen, Gehirnjogging, Vitamine, Aminosäuren, Ernährungsumstellungen.
Ich hatte den Alkohol reduziert, meditiert,
Yoga gemacht,
vor kurzem noch drei Liegestütze geschafft.
Und auf dem Klassentreffen sahen einige
deutlich älter aus als ich.

Trotzdem:
Etwas lässt sich nicht mehr aufhalten.

Autonomieverlust ist keine Nebensache.
Er rührt an meinem Bild vom Leben.

Ein Umzug in eine betreute Wohnform
fühlt sich an wie eine Kapitulation.
Und doch spüre ich,
dass es auch ein Schritt sein könnte –
in mehr Sicherheit,
mehr Ruhe.

Der Verlust schmerzt.
Wie damals, als der Beruf endete
und plötzlich Zeit da war –
zumindest so lange,
bis ich mich neu orientierte
und mein Terminkalender sich langsam wieder füllte.

Und plötzlich taucht die Frage wie aus dem Nichts auf:

Was, wenn es gar nicht der Verlust ist,
der am meisten schmerzt –
sondern die Ruhe,
die plötzlich bedrohlich wirkt?

Kontrollverlust als spirituelle Schule

Es gibt wohl einen anderen Blick auf mein Dasein –
einen, der nicht durch Unabhängigkeit definiert ist.

Er zeigt sich im aufrechten Blick trotz Krücke,
in der Geste des Vertrauens,
wenn mir jemand die Hand reicht.
Und in der Demut,
mein eigenes Tempo zu finden –
ohne mich aufzugeben.

Gerade in diesen Wandlungen
liegt eine Chance:
mir selbst neu zu begegnen.

Mich nicht mehr über Leistung,
sondern über Gegenwärtigkeit zu definieren.

Und zu erfahren:
Ich bin nicht weniger wert,
nur weil ich langsamer werde.

Bewusstsein im Wandel

An manchen Tagen,
an denen kaum etwas gelingt,
an denen mein Aktivismus
wie weggeblasen scheint –
in der Langweiligkeit,
beim Schauen ins Nichts –

kommen auf einmal Gefühle zu Tage,
die Jahrzehnte in mir geschlummert haben.
Ich habe sie immer konsequent
und erfolgreich verdrängt.

Doch heute,
wo mir die Kraft fehlt,
sie erneut zu übertönen –
begegne ich ihnen.

Wie einem inneren Freund,
der lange nicht gehört wurde.

Ich spüre die Chance,
mir selbst nicht mehr auszuweichen.

Mir neu zu begegnen –
in einem Anteil,
der mir bedrohlich
und mit der Zeit beinah fremd geworden ist.

Mich mir selbst zuzuwenden –
in einem Teil,
der in schweren Zeiten zurückblieb
und mir nun Tiefe schenkt.

Es ist wohl das,
was manche
Bewusstseinserweiterung nennen.

Und tatsächlich:
Ich werde mir selbst bewusster.

Ein Stück ganzer.

Nicht weniger –
wie lange befürchtet.
Sondern mehr.

Endlich.

Der andere Blick auf dasselbe

Der körperliche und geistige Rückzug
zwingt mich in eine andere Form der Wachheit.

Was ich nicht mehr kontrollieren kann,
ist heute nicht mehr gleichbedeutend mit Schwäche.

Es wird zur inneren Übung.

Zu einer Einladung,
mich nicht mehr zu halten –
sondern zunehmend ein Gehaltensein
in etwas Größerem wahrzunehmen.

„Der Moment, in dem ich nicht mehr konnte,
war nicht das Ende.
Es war der Beginn eines anderen Sehens –
vielleicht sogar eines anderen Seins.“
(aus „Ein Handel mit Gott“)

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Die Bücher erscheinen bald im Axionum Verlag Schweiz. Vorbestellungen nimmt der Verlag gerne entgegen.

Matthias Joos, Diplom Mathematiker, psychologischer Berater in eigener Praxis in Küssnacht am Rigi, Autor www.matthiasjoos.ch

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