Bessere Betreuung im Alter
Die Betreuung für hochaltrige, hilfebedürftige Menschen soll verbessert werden, insbesondere für Personen, die dadurch länger zuhause leben können. Ein vom Bundesamt für Sozialversicherungen publizierter Bericht gibt eine breite Übersicht über diese Thematik und soll Bund und Kantone bei Verbesserungen ihrer Alterspolitik unterstützen.
Von Peter C. Meyer, Vorstandsmitglied des ZSS
Noch immer gibt es hochaltrige Menschen, die in ein Alters- oder Pflegeheim eintreten, weil sie die notwendige Betreuung zuhause nicht finanzieren können. Für die Bezahlung der Betreuung in Heimen können Ergänzungsleistungen bezogen werden, während die Betreuung zuhause selber bezahlt werden muss. Das Problem ist von der Politik erkannt und soll behoben werden, denn die meisten Hochaltrigen bleiben lieber in der eigenen Wohnung, und die Heimbetreuung ist teurer als die Betreuung zuhause.
Die Betreuung alter Menschen ist zwar grundsätzlich Aufgabe der Kantone und der Gemeinden, aber der Bund spielt eine zentrale Rolle bei der Finanzierung durch die Sozialversicherungen. Aufgrund von Vorstössen im Parlament plant das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) im Auftrag des Bundesrates eine Änderung bei den Ergänzungsleistungen zur AHV, die eine Finanzierung der Betreuung zuhause bei finanzschwachen Menschen ermöglicht. Als Grundlage für diese Änderung hat nun das BSV den Bericht «Betreuung im Alter» publiziert, der vom Büro BASS erarbeitet wurde. Im Folgenden wird dieser Bericht zusammengefasst und kritisch beleuchtet.
Integrative Betreuung
Betreuung wird als umfassender Begriff für alle Arten von praktischer, emotionaler und sozialer Unterstützung verwendet. Die als Ideal vorgeschlagene «Integrative Betreuung» besteht aus vier Merkmalen (Bericht Seite 63):
- Personenzentriert: Die Betreuung orientiert sich an den Bedürfnissen und der Selbstbestimmung der betagten Menschen und baut auf ihren Ressourcen und Kompetenzen auf.
- Koordiniert: Die verschiedenen Angebote der Betreuung von Profis, Angehörigen und Freiwilligen werden koordiniert; Doppelspurigkeiten der Angebote werden vermieden.
- Umfassend: Alle Arten von Betreuung gehören dazu, insbesondere Selbstsorge, soziale Teilhabe, Alltagsgestaltung, Haushaltsführung, Beratung und Sicherheit.
- Zugänglich: Die Betreuung ist räumlich und zeitlich verfügbar und finanziell tragbar. Barrieren werden abgebaut.
Phasenmodell
Sehr konkret, detailliert und nützlich ist das im Bericht entwickelten Phasenmodell des Betreuungsbedarfs (S. 47 – 52). In acht Phasen wird der steigende Betreuungsbedarf aufgrund von zunehmenden Einschränkungen aufgezeigt. Dabei werden Begriffe und Erfassungsmethoden verwendet, die weitaus konkreter und eindeutiger sind als in anderen Teilen des Berichtes. International klar definiert ist das Konzept der Alltagsaktivitäten, das zwei Kategorien umfasst:
Zu den «instrumentellen Alltagsaktivitäten (IADL)» gehören Tätigkeiten wie Essen zubereiten, einkaufen, Hausarbeiten erledigen, sich um seine Finanzen kümmern und den öffentlichen Verkehr benützen. Ein Unterstützungsbedarf bei einzelnen Tätigkeiten der IADL tritt relativ früh auf und kann oft von Freiwilligen und Angehörigen abgedeckt werden, bei Bedarf unterstützt von einzelnen professionellen Angeboten. Im Phasenmodell überwiegen Einschränkungen der IADL in den Phasen 3 bis 5. Die Einschränkungen der Phasen 1 und 2 sind sehr gering und benötigen kaum professionelle Betreuung.
«Activities of Daily Living (ADL)» im engeren Sinne umfassen grundlegenden Alltagsaktivitäten wie An- und Auskleiden, Aufstehen und Absitzen, Körperpflege, Nahrungsaufnahme und das Verrichten der Notdurft. Leichte Einschränkungen bei den ADL beginnen in Phase 5 und nehmen zu bis zur Phase 8, der letzten Lebensphase. Ab Phase 6 nimmt die Bedeutung der pflegerisch-therapeutischen Versorgung zu.
Die Stärke des Phasenmodells liegt darin, dass hier der Bedarf nach Betreuung und Pflege gleichermassen aufgezeigt wird. Eine grosse Schwäche der ganzen Diskussion über den Betreuungsbedarf liegt nämlich darin, dass Pflege und Gesundheitsversorgung oft ausgeblendet werden, obschon Betreuung und Pflege für die Betroffenen eng zusammengehören.
Praktische Beispiele
Hochinteressant sind die im Bericht knapp beschriebenen zehn Praxisbeispiele aus verschiedenen Kantonen (S. 66 – 71). Besonders überzeugt hat mich das Projekt «Réseau Santé et Social» des Bezirks Gruyère im Kanton Freiburg. Pflegeheime werden zu «Kompetenzzentren für ältere Menschen» weiterentwickelt und umfassen Spitex, medizinisch-therapeutische Praxen und Mehrzweckräume für lokale Vereine. Über die Integration von Betreuung und Pflege hinaus wird eine ganzheitliche Alterspolitik einschliesslich präventiver Ansätze angestrebt.
Eher enttäuschend finde ich das Projekt «CareNet+» im Bezirk Affoltern mit 13 Gemeinden, das von der Pro Senectute Kanton Zürich betrieben wird. Der Fokus des Projektes liegt auf dem Case Management für ältere Menschen in komplexen Situationen, die auch Pflegeleistungen benötigen. Das Case-Management habe sich zwar bewährt, aber es ist teuer und es werden nur 4 bis 7 Personen pro Jahr erreicht. Vermutlich würden mehr Personen erreicht, wenn bei einem solchen Projekt der Lead bei der Spitex liegen würde, die sowieso Zugang zu pflegebedürftigen Menschen hat.
Handlungsempfehlungen
Die Handlungsempfehlungen des Berichtes sind wenig konkret und konzentrieren auf staatliche Stellen (S. 80 – 82). Bund und Kantone sollen den Lead für die Weiterentwicklung der Altersbetreuung übernehmen und dabei neue rechtliche Grundlagen und Finanzierungsmöglichkeiten schaffen. Ansätze von integrativer Betreuung sollen entwickelt und ein Kulturwandel in Richtung einer umfassenden Alterspolitik soll angestossen werden. Leider wird dabei die Integration von Betreuung, Pflege und Gesundheitsversorgung nicht angesprochen. Als letzte und innovativste Empfehlung wird eine Versorgung postuliert, die nicht nur auf individueller Ebene stattfindet, sondern im Sinne der Caring Communities (Sorgegemeinschaften) lokale Unterstützungssysteme entwickeln sollte.
Peter Stettler et al. 2023: Betreuung im Alter – Bedarf, Angebote und integrative Betreuungsmodelle. Forschungsbericht BSV, Bern. Downloadbar und kostenlos bestellen hier: