Im Garten des Lebens

Ich beobachte die Menschen im Garten des Alters- und Pflegeheims «Residenz Lebensfreude». Einige sind aktiv am Gärtnern, andere pflücken und essen Früchte und Gemüse und wieder andere erholen sich einfach. Hier steigt die Lebensqualität aller Menschen mit unterschiedlich starker Demenz.

Teil 2

Von Dorit van Meel

Es ist ein wunderschöner Herbsttag. Ich stehe mitten im Garten des Alters- und Pflegeheims «Residenz Lebensfreude». Die Sonne strahlt und wärmt mich. Hier ist mein Platz, zwischen Kapuzinerkresse und Schnittlauch.

Da kommt sie wieder, mit ihrem gemächlichen Gang und der Giesskanne in der Hand. Sie hat ein sanftes Lächeln auf dem Gesicht, als ob sie gleich etwas Schönes mit mir teilen möchte. «Guten Morgen, meine Liebe», murmelt sie, während sie sich zu mir herabbeugt. Sie spricht oft mit mir. Vielleicht denkt sie, ich könnte ihre Worte hören. Vielleicht ist das ein bisschen wahr.

Als sie mich giesst, umschmeichelt das kühle Nass meine Wurzeln. Plötzlich greift sie nach einer der roten Tomaten, die prall und saftig an meinem Stängel hängen. Sie lächelt, als sie die Frucht mit Sorgfalt abpflückt und in ihren Mund steckt. Der Saft läuft ihr über die Lippen, und für einen Moment blitzt ein Licht in ihren Augen auf. Es ist, als ob der Geschmack meiner Tomate sie zurück in eine andere Zeit versetzt, als sie noch in ihrem eigenen Garten aktiv war.

Vielfalt bieten
Der Garten, in dem ich lebe, ist mehr als nur ein Ort zum Gärtnern. Manchen Menschen, die hier leben und arbeiten, bietet er Ruhe auf einer Sitzbank, anderen bietet er Bewegungsmöglichkeiten auf barrierefrei und in Runden angelegten Wegen. Dies ist wichtig, damit sich niemand im Garten verlaufen kann und alle wieder zum Gebäudeareal zurückkommen. Da der Garten leicht zu erreichen ist und viele Nutzungsmöglichkeiten bietet, spricht er viele Menschen an. Der Anblick der bunten Blumen erfreut sie, Kräuter und andere Sinnespflanzen regen dazu an, berührt und gekostet zu werden.

Ich bemerke, wie sich die Gesichter der Menschen verändern, sobald sie im Garten sind. Hier draussen gibt es keine Medikamente, Bildschirme, weniger Stress, Druck und Hektik. Hier herrschen die kleinen Freuden des Lebens. Diese Momente sind besonders wertvoll für Menschen, die im Alltag oft mit Verwirrung und Unsicherheit zu kämpfen haben. Der Garten ist ein vertrauter Raum, in dem sie sich selbst sein können.

Dr. Dorit van Meel
leitet die Forschungsgruppe Grün und Gesundheit an der ZHAW Life Sciences in Wädenswil

Vielfalt erleben
Natürlich ist es nicht für jede Person gleich einfach, sich aktiv am Gartenleben zu beteiligen. Der Grad der Demenz spielt eine grosse Rolle, ebenso die körperlichen Fähigkeiten, und viele persönliche Gründe. Manche Bewohner, die sich noch gut bewegen können, schaufeln Erde, mulchen oder giessen. Andere zupfen Unkraut oder pflanzen neue Samen. Besonders beliebt sind ich und andere Pflanzen, wenn wir unsere Früchte tragen – jetzt kann geerntet und gleich an Ort und Stelle gegessen werden. Deshalb ist es auch absolut notwendig, dass keine giftigen Pflanzen in diesem Garten wachsen.

Aber es gibt auch Bewohner, die weniger aktiv sein können. Für sie ist der Garten ein Ort der passiven Wahrnehmung. Sie sitzen in der Nähe der bunten Beete und lassen sich von der Schönheit der Natur berühren. Hier hören sie den Gesang der Vögel und das Rascheln der Blätter im Wind. Oft kommen Pflegekräfte vorbei oder die ausgebildete Gartentherapeutin, die hier arbeitet, und unterstützen die Menschen dabei, einen individuellen Nutzen des Gartens zu erleben.

Vielfalt spüren
Der Garten bietet Menschen mit Demenz viele Vorteile. Hier können sie sich bewegen, was wichtig für ihre körperliche Gesundheit ist und ihre Fingerfertigkeit trainieren. Wenn sie sich um mich kümmern, beschert ihnen dies eine sinnvolle Aufgabe und fördert das allgemeine Wohlbefinden. Ich spüre die Freude, die sie empfinden, wenn sie aktiv werden und etwas Nützliches mit ihren Händen tun können.

Die wohltuende Wirkung auf die Bewohner wirkt sich auch auf die Mitarbeiter des Heims aus. Wenn die Bewohner zufriedener, weniger aggressiv und körperlich ausgelasteter sind, können sie leichter und mit weniger Belastungen ihre Arbeit verrichten. Zudem können auch sie den Garten als Aufenthaltsort nutzen.

Vielfalt sein
Ich bin stolz darauf, Teil dieses Ortes zu sein, in dem Menschen wie die ältere Dame mit der Giesskanne sinnvoll gestaltete und gesundheitsfördernde Zeit verbringen können. Jedes Mal, wenn sie zu mir kommt und mir Zuneigung schenkt, blühe ich ein Stück mehr auf. Die Erinnerungen, die ich in ihr wecke, die Freude, die ich ihr bringe – all das macht den Garten zu einem besonderen Ort des Lebens.

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