Familienbeziehungen auf den Grund gehen
Noch nie zuvor dauerte das Miteinander von Kindern und ihren Eltern so viele Jahre wie heute. Die Langlebigkeit ist eine zivilisatorische Errungenschaft, aber auch eine gesellschaftliche und sehr häufig auch eine familiäre Herausforderung.
Barbara Neff, Text und Urs Bösch, Fotos Vorstandsmitglieder ZSS

Was bedeutet es, selbst schon Grossmutter, aber gleichzeitig immer noch Kind zu sein? Was bedeutet es, als Sohn oder Tochter betagte Eltern zu unterstützen, ohne sich selbst zu überfordern? Alter, Rollen und neue Wege, Aufmüpfigkeit und Hinfälligkeit, Selbstbestimmung und Bevormundung – das waren Themen, die an der Veranstaltung vom 11.11.25 von der Referentin, Frau Dr. Bettina Ugolini aufgegriffen und reflektiert wurden.
Unsere Gesellschaft entwickelt sich mehr und mehr zu einer lang andauernden Drei- oder sogar Vier-Generationen-Gesellschaft
Mit steigender Lebenserwartung verlängert sich die Zeit des Miteinanders verschiedener Generationen. Nie zuvor hatten erwachsene Kinder so lange lebende Eltern, und noch nie gab es so viele Kinder mit Urgrosseltern. Aber wegen der immer geringeren Kinderzahl pro Familie schwindet die Vielfalt verwandtschaftlicher Beziehungen: weniger Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen. Dafür verlängern sich die vorhandenen Beziehungen und schiessen quasi bohnenstangenartig in eine nie gekannte (Alters-)Höhe.

Eltern-Kind-Beziehung – Rollentausch?
Wer sagt denn, die Jungen müssen zu den «Alten» schauen? Immer wieder wird von einem geschlossenen Kreislauf gesprochen: Zuerst übernehmen die Eltern die Verantwortung für ihre Kinder und erziehen sie zu einem selbständigen Leben. Wenn die Eltern alt und hilfsbedürftig sind, übernehmen die Kinder Fürsorge und Verantwortung.
Die Referentin klärt auf: Rollenveränderung ja, Rollentausch nein. Dabei geht sie ausführlich auf die Kennzeichen einer «filial-reifen» (Kind) und einer «parental-reifen» (Eltern) Haltung ein.
Kinder, die sich plötzlich aufführen, als wären sie die Eltern ihrer Eltern, werden schnell bevormundend oder überschreiten Grenzen.
Auf der Seite der Kinder braucht es freiwillige, aus einer autonomen Haltung herausfolgende Zuwendung zu den Eltern, aber auch die Fähigkeit, Konflikte offen und konstruktiv auszutragen, mit der Bereitschaft für Versöhnung. Selbstverständlich spielen in der langen Geschichte von «alten» Kindern und ihren betagten Eltern auch frühe Geschehnisse eine wesentliche Rolle.
«Mutter, du musst dich bewegen, du musst mehr trinken, du musst mehr unter die Leute» usw..
Dies tönt nach Erziehung, Bevormundung und nicht nach einer Beziehung auf Augenhöhe.
Aber auch umgekehrt, wenn die Eltern Hilfe der eigenen Kinder einfordern, die diese nicht leisten können oder wollen, kann diese zu einer Überforderung und zu einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung führen.
Auf der Seite der Eltern braucht es aber auch die Akzeptanz der eigenen Situation und den Willen, das eigene Alter aktiv gestalten zu wollen.
Was kann zu einer guten Eltern-Kind-Beziehung führen?
Gemäss Bettina Ugolini gibt es viele unterstützende Lösungsansätze, z.B.
- Immer wieder versuchen, die andere Seite zu verstehen, in die Schuhe des anderen treten und auf Augenhöhe bleiben.
- Über die gegenseitigen Erwartungen sprechen und diese in klare Abmachungen überführen.
- Respekt haben vor dem, was möglich ist und daran denken, dass hier eine lange Beziehungsgeschichte wirksam wird.

Man hätte den Ausführungen von Bettina Ugolini noch lange folgen können, aber die Vortragszeit und die anschliessende Fragenrunde waren nach gut anderthalb Stunden vorbei, und der angekündigte Umtrunk im Foyer des AZ Hottingen stand bereit. Viele Teilnehmende verweilten und diskutierten weiter über die Neudefinition der etablierten Rollen in den Familienbeziehungen.
Wenn auch Sie, liebe Leserin und lieber Leser an diesem oder weiteren Themen zum Alter interessiert sind, empfehlen wir Ihnen die Podcasts von Bettina Ugolini unter: zfg.uzh.ch, Beratung, Podcast.