
Psychische Gesundheit jenseits der Vitalität.
Wir können vieles dafür tun, auch im Alter fit zu bleiben. Aber nicht alles liegt in unseren Händen. Ein wertschätzender Umgang mit dem Alter bedeutet auch, die zunehmende Verletzlichkeit nicht zu verleugnen.
Teil 4
Von Jutta Stahl
Der Longevity-Hype zielt darauf ab, gesund und vital ein möglichst hohes Alter zu erreichen. Empfehlungen fokussieren dabei auf eine gesunde Ernährung, regelmässige Bewegung und geistige Aktivitäten sowie die Pflege sozialer Kontakte. Dabei geht schnell vergessen, dass Selbstoptimierung ihre Grenzen hat. So zeigt beispielsweise die Demenzforschung, dass nicht einmal die Hälfte der Faktoren, die eine Demenz im Alter begünstigen, tatsächlich beeinflussbar sind. Auch wenn man alles «richtig» macht, wächst im Alter unweigerlich die Wahrscheinlichkeit, unter chronisch körperlichen Erkrankungen zu leiden, kognitiv abzubauen, gebrechlicher und hilfsbedürftiger zu werden. Wie gelingt es, mit altersbedingten Verlusten und Einschränkungen so umzugehen, dass die Freude am Leben erhalten bleibt?

Prozesse der Entwicklungsregulation
Resilienz, schrieb die grosse Altersforscherin Ursula Staudinger 1995, sei die Fähigkeit, nach Eintreten von Anforderungen und Verlusten das frühere psychische Anpassungs- und Funktionsniveau wieder herzustellen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht gibt es zwei Möglichkeiten eine, durch Anforderungen und Verluste entstandene Diskrepanz zwischen dem Ist- und einem gewünschten Sollzustand zu reduzieren: Assimilation und Akkommodation. Im assimilativen Modus wird versucht, den Verlauf der eigenen Entwicklung entsprechend den Vorstellungen zu gestalten, die man von sich selbst und seinem Leben hat. Man kann sich auf einen gewünschten Ziel-Zustand hinbewegen oder einem Verlust entgegenwirken, indem man sich anstrengt, Wissen und neue Fähigkeiten aneignet. Wenn Ziele aufgrund geänderter Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten aber ausser Reichweite geraten, werden akkommodative Prozesse bedeutsam. Hier gilt es, die entstandene Diskrepanz durch eine Angleichung von Zielen, Ansprüchen und Sollsetzungen an die gegebene Situation resp. veränderte Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten anzupassen, sich also von einem nicht mehr erreichbaren Ziel abzulösen und sich anderen, noch erreichbaren Zielen zuzuwenden.
Beide Entwicklungsmodi beinhalten Risiken. Hält man an einem nicht mehr erreichbaren Ziel fest, kämpft gegen Verluste an, die nicht in unserer Macht liegen, entstehen Gefühle der Verzweiflung oder des Haderns. Resigniert man vorschnell bei Belastungen, die ein Veränderungspotential aufweisen, besteht das Risiko einer Depression. Die Kunst besteht also darin, flexibel zwischen beiden Entwicklungsmodi zu wechseln, je nachdem, ob eine Belastung veränderbar ist oder nicht. Ein Gebet, angeblich von Franz von Assisi, bringt die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse auf den Punkt: «Herr, gib mir die Kraft zu ändern, was ich ändern kann, die Gelassenheit anzunehmen, was ich nicht ändern kann und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden».

freiberuflich tätig und Mitglied der AGe+ Angewandte Gerontologie der ZHAW.
Wie geht Weisheit?
Im besten Fall bilden lebenslang erworbene Erfahrungen im Umgang mit Schwierigkeiten eine gute Grundlage, um zu entscheiden, wo es sich zu kämpfen lohnt und wo es klüger ist, eine Situation anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Alte Menschen, die krank, gebrechlich, abhängig und trotz allem zufrieden sind, verfügen über die Fähigkeit, Verluste nicht zu verleugnen, gleichzeitig aber den Blick auf das Positive zu richten. Beispielsweise vergleichen sie ihren Gesundheitszustand mit dem anderer Menschen, denen es schlechter geht oder fokussieren auf Gewinne der aktuellen Lebenssituation gegenüber früheren Lebensphasen, zum Beispiel dass sie mehr Zeit haben. Sie sind dankbar für das, was trotz aller Einschränkungen geblieben ist, und freuen sich an kleinen, oftmals alltäglichen Dingen. Im Idealfall gelingt es, das eigene Leben als Teil eines grösseren Ganzen wahrzunehmen, das der eigenen Existenz einen Sinn verleiht. Das Erleben von Transzendenz erwächst nicht nur aus Formen der Religiosität, sondern auch aus einer Verbundenheit mit der Natur oder dem Interesse und einer Anteilnahme am Leben nachfolgender Generationen.

Psychisch verletzliche Menschen nicht allein lassen
Nicht jedem Menschen gelingt es, auch im von Krankheit und Gebrechlichkeit gezeichneten Alter Sinnhaftigkeit zu erleben. Ursachen für Selbstzweifel, ein geringes Selbstwertgefühl oder die Befürchtung, bei einer zunehmenden Hilfsbedürftigkeit anderen Menschen nur noch zur Last zu fallen, sind häufig darin begründet, was diese Menschen in jungen Jahren erfahren haben. Sie haben beispielsweise gelernt, dass nur wer nützlich und selbständig, auch liebenswert und wertvoll ist. Diese Menschen sind besonders verletzlich und anfällig für Gefühle des Versagens und der Wertlosigkeit angesichts einer wachsenden Tendenz zur Überbetonung des gesunden und fitten Alters. Diese Menschen dürfen wir nicht allein lassen. Sie benötigen Zuwendung und Unterstützung. Fehlt im persönlichen sozialen Umfeld diese Unterstützung, braucht es fachliche Hilfe zum Beispiel in Form von Psychotherapie.
Je mehr sich der gesellschaftliche Trend einer Selbstoptimierung im Alter durchsetzt, desto höher ist das Risiko einer Entsolidarisierung mit kranken, gebrechlichen und einsamen Menschen. Zur Förderung der psychischen Gesundheit im Alter ist es unabdingbar, neben der Betonung des Erhalts von Fitness auch die unscheinbaren, aber gleichermassen anspruchsvollen psychologischen Entwicklungsprozesse zu beachten und wertzuschätzen. Schliesslich sind sie es, die es uns ermöglichen, die Grenzen der Machbarkeit zu ertragen und die Schattenseiten des Alters neben den schönen Seiten in die Gesamtgestalt des eigenen Lebens – und in die des Lebens überhaupt – zu integrieren.